„Verachtung und Hass sind profitabler als Katzenvideos“

Henri-Nannen-Preisträger Wolfgang Kaes gilt als der Ermittler unter den deutschen Krimi-Autoren. Seine Romane bewegen sich stets „an der Abbruchkante zur Wirklichkeit“, schrieb die Westdeutsche Zeitung. „Das Lemming-Projekt“ taucht nun tief in die Abgründe der Social-Media-Welt ein.

Soeben ist ihr inzwischen neunter Roman erschienen: „Das Lemming-Projekt“. Um was geht es?

„Das Lemming-Projekt“ ist eine Geschichte über die Fragilität demokratischer Gesellschaften. Eine Geschichte über Macht durch Manipulation und die Instrumentalisierung der Menschen durch die Erzeugung von Hass. Aber auch eine Geschichte über den gelegentlichen Sieg der Wahrheit über die Lüge.

Der Schauplatz Ihres Thrillers ist Andalusien im Sommer 2019. Warum Andalusien?

Für das Thema wären auch Polen oder Irland in Frage gekommen. Aber da kenne ich mich nicht aus. Zum Glück waren die Recherchen in Andalusien weitgehend abgeschlossen, bevor die Pandemie die Welt auf den Kopf stellte und Spanien einen langen, harten Lockdown bescherte. Im Frühjahr 2020 wären meine Protagonisten weitgehend zur Handlungs- und Bewegungsunfähigkeit verdammt gewesen. Aber der Umgang mit Corona in den sogenannten sozialen Medien macht die Aktualität und Relevanz des Romanthemas erneut deutlich – ebenso wie die dramatischen Ereignisse in Washington am Ende der Präsidentschaft Trumps sowie Putins subtiler kalter Krieg im Netz.

Ihr Roman ist eine Dystopie, die eine äußerst verstörende Welt beschreibt…

Verstörend, aber keineswegs zukünftig. Also keine klassische Dystopie. Denn was ich beschreibe, ist gegenwärtig und längst bittere Realität.

Das heißt, Sie haben wieder akribisch recherchiert und solche Löschfabriken wie in Ihrem Buch gibt es tatsächlich?

Die weltweit meisten stehen übrigens in der Hauptstadt der Philippinen. In Manila sind rund 150.000 junge Menschen tagtäglich damit beschäftigt, im Auftrag der großen internationalen IT-Konzerne digitalen Giftmüll in Handarbeit aus dem Netz zu filtern. Diese Menschen sitzen Tag für Tag, Nacht für Nacht in riesigen Bürohallen, die Legebatterien ähneln, vor ihren Monitoren und löschen Pornografie, Hass und Gewalt aus dem Netz. Das ist nämlich ein Ammenmärchen, dass die widerlichsten Dinge nur im Darknet kursieren. Im Darknet kannst du illegal Waffen kaufen. Im frei zugänglichen Internet erzählen sie dir dann, gegen wen du die gekaufte Waffe einsetzen kannst, um deinen Hass auszuleben.

Könnte dieses Filtern nicht ein Algorithmus erledigen?

Soweit ist die Künstliche Intelligenz noch nicht. Algorithmen sorgen lediglich für eine grobe Vorauswahl der Fotos, Memes und Videos, die dann den Content Analysts zur Prüfung auf die Monitore gespielt werden.

Wahrscheinlich sind die Beschäftigten froh, überhaupt einen Job zu haben…

Und die Arbeit geht ihnen nicht aus: In jeder Minute werden weltweit 500 Video-Stunden auf YouTube hochgeladen, 450.000 Tweets bei Twitter, 2,5 Millionen Posts auf Facebook. Für 3 US-Dollar Tageslohn hat jeder Content Analyst pro Schicht Tausende Fotos und Videos zu sichten. Löschen oder Ignorieren? Maximal zwei Sekunden für jede Entscheidung. So steht es in den Arbeitsverträgen. Die jungen Leute verdienen zwar mehr als ihre Eltern oder Großeltern, die Tag für Tag auf den analogen Müllhalden der Stadt nach Verwertbarem und Verkaufbarem suchen. Aber sie ruinieren ihre seelische Gesundheit. Damit die zarten Seelen europäischer oder nordamerikanischer Social-Media-User nicht mit all dem digitalen Dreck behelligt werden.

Aber es wird doch nicht nur Schreckliches zu sehen sein…

Leider doch. Denn all die süßen Katzenvideos oder die idiotischen Fotos vom im Restaurant bestellten Essen werden schon von den Algorithmen im Silicon Valley freigegeben. Viele der jungen Leute leiden unter schweren Depressionen. Die Suizid-Rate unter den Cleaners ist extrem hoch. Von ihren Arbeitgebern werden sie zwar Content Analysts genannt; aber sie selbst nennen sich Cleaners. Das trifft es auch besser.

Warum gibt es ausgerechnet in Manila so viele dieser Löschfabriken?

Einmal natürlich wegen des niedrigen Lohnniveaus, das den Firmeninhabern ermöglicht, ihre Dienstleistung den IT-Konzernen im Silicon Valley möglichst preisgünstig anzubieten. Zum anderen aber wegen der tiefen Verwurzelung der Bevölkerung im Katholizismus. Das sorge für eine besondere Leidensfähigkeit, heißt es. Außerdem kann man tiefgläubigen Menschen offenbar sehr gut einreden, sie befänden sich mit ihrem Job auf einer heiligen Mission, weil sie das Netz von der Sünde reinigen.

Das klingt ganz schön zynisch.

Ist es auch. Wie zynisch muss man sein, um Menschen diesen grausamen Job zuzumuten? Was da in Manila und anderswo passiert, das wissen auch die Auftraggeber im Silicon Valley.

Warum dringen menschliche Abgründe mit solcher Macht ins Netz?

Das ist kein Zufall. In der Sprache der Plattform-Architekten im Silicon Valley verspricht erst „engagement“ satte Gewinne aus den Töpfen der Werbeindustrie – gemeint ist mit „engagement“ der möglichst häufige, möglichst lange und möglichst aktive Aufenthalt des Nutzers in der Facebook- oder Twitter-Welt.

Dagegen lässt sich ja zunächst mal nichts einwenden…

Klar, so funktioniert nun mal der Kapitalismus. Aber „engagement“ und damit „traffic“ in der gewünschten profitablen Menge lässt sich nicht mit dem Austausch von Nettigkeiten und lustigen Katzenfotos erzielen, sondern nur mit emotional extrem aufgeladenem Content. Die selbstlernenden Algorithmen der Großrechner im Silicon Valley sind darauf programmiert, „engagement“ zu mehren. Sie haben schnell gelernt, dass negative Emotionen deutlich mehr „traffic“ erzeugen als positive Emotionen. Neid und Missgunst, Angst und Wut, kalte Verachtung und blanker Hass sind effizienter und damit profitabler als zum Beispiel Empathie. Negatives Feedback ist schneller und damit preisgünstiger herzustellen als positives Feedback. Ergebnis: Wer am lautesten schreit und moralisch-ethische Grenzen überschreitet, wer aggressiv und verletzend im Ton wird, wer Versagensängste oder Minderwertigkeitsgefühle bei anderen hervorlockt, wer verleumdet oder herabwürdigt, der erzielt über die Algorithmen mehr „Likes“, mehr „Follower“, also mehr Aufmerksamkeit und Bestätigung. Ein Paradies für Narzissten.

Aber wie gefährdet dies demokratische Gesellschaften?

Ex-Facebook-Manager Antonio García Martinéz hat es mal auf den Punkt gebracht: „Früher hatte jeder das Recht auf eine eigene Meinung. Heute beansprucht jeder das Recht auf eine eigene Wahrheit, auf eine eigene Realität.“ Die Algorithmen sorgen dafür, dass sich die Leute, ohne es zu merken, ganz schnell nur noch in ihren homogenen Echokammern bewegen.

Und warum sind diese Echokammern so gefährlich?

Eine Demokratie setzt voraus, dass es eine Verständigung auf ein paar gemeinsame Grundwahrheiten gibt. Verständigung entsteht durch Kommunikation. Wenn aber Kommunikation nur noch in abgespaltenen Echokammern stattfindet, es also keine gemeinsamen Grundüberzeugungen mehr gibt, dann wird das die äußerst fragilen demokratischen Gesellschaften allmählich zerstören. Das sagen übrigens Leute, die bedeutend klüger sind als ich.

Was kann man dagegen tun?

Lange haben sich die IT-Konzerne erfolgreich damit herausgeredet, man biete ja gar kein richtiges Medium, sondern nur so eine Art technische Plattform und sei deshalb für die dort transportierten Inhalte nicht verantwortlich. Aber der Druck der Politik wächst zum Glück weltweit. In keiner deutschen Tageszeitung würde ein anonymer Leserbrief abgedruckt, und rechtlich sind die Zeitungsverlage hierzulande auch für die Inhalte der veröffentlichten Leserbriefe verantwortlich. Und jedes Auto trägt ein Nummernschild, damit man es identifizieren kann, wenn es Schaden im Straßenverkehr anrichtet. Nur in den sogenannten sozialen Medien kann völlig anonym und nach Herzenslust beleidigt, diffamiert, erniedrigt, verleumdet und Rufmord begangen werden.

Sind Sie selbst bei einem sozialen Netzwerk unterwegs?

Nein, und ich war es auch noch nie. Nicht bei Twitter, nicht bei Facebook, nirgendwo. Sie werden es vielleicht nicht glauben: Ich vermisse nichts. Und ich bin nicht alleine mit dieser Haltung. Auch die Zahl prominenter Politiker oder Künstler, die sich nach leidvollen Erfahrungen wieder daraus verabschieden, wächst stetig